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Katalog Bilder 95 – 99, Regensburg 1999, S. 5 / Autor: Jürgen Schönleber

„Was wollen Sie mit diesem Bild sagen“. Eine Frage über die der versierte Kunstbetrachter vielleicht lächelt, welche sich aber trotzdem zur weiteren Reflexion lohnt. Die Frage resultiert aus einer Eigentümlichkeit der Sprache, welche auf der Unterscheidung von Medium und Sinn aufbaut. Das Medium in der Sprache wäre zum Beispiel ein akustisches Signal, eine Silbe oder eine sichtbare Spur, ein Buch­stabe welcher aufgrund eines wiederholbaren Zusammenhangs innerhalb der Strukturen Wort, Satz, Grammatik identifiziert werden kann. Allein diese wiederholbaren Prozesse machen aber noch keine Sprache. Sprache setzt nämlich immer schon einen vorhandenen Sinn voraus. Sinn hat nach Niklas Luhmann nichts zu tun mit dem „fast vergessenen Sinn des Seienden, seinen Wesensformen, den Ideen“, sondern mit „Strukturen nur für den momentanen Gebrauch zur Bewahrung von Selektivität und zur Einschränkung von Anschlußfähigkeit“. Das soll bedeuten, Sprache muß über die pure Information hinaus als Mitteilung verstanden werden, um daran dann an das Verstandene anschließen zu können. Sinn ist in diesem Zusammenhang die Rekursion vergangener Selektionen im Hinblick auf einen ge­genwärtigen Zustand mittels Leistungen des Erinnerns und Vergessens. Durch die­ses Vorgehen ist Kommunikation als gesellschaftlich konstituierendes Medium mög­lich, Luhmann würde sagen wahrscheinlich. Was aber haben diese grundsätzlichen Betrachtungen über Sprache und Kommunikation mit meinen Bildern zu tun. Das Vorhanden Sein wiedererkennbarer Formen im Gegenstand mag vielleicht zur falschen Rezeption verleiten. Die Rekursion auf bereits Verstandenes innerhalb eines direkten lebensweltlichen Zusammenhangs, zum Beispiel Umweltzerstörung, liegt darum um so näher. Aber auch ein völlig ungegenständliches Bild würde viel­leicht als Ausdruck, zum Beispiel von Gefühlen, interpretiert. Mit solchen Rekursio­nen haben aber meine Bilder nichts zu tun. Selbst die Titel der Bilder werden nachträglich verliehen und sind eher ironisches Beiwerk. Mir geht es vielmehr um ein unmittelbares Gefallen. Also ganz anders als bei den von mir, ich glaube un­übersehbar, geschätzten Malern der Art Brut, also der Kinder oder Geisteskranken. Schon das Wort Gefallen impliziert Beliebiges, ein kontingentes Spiel zwischen Lust und Unlust. Rem Koolhaas analysiert in seiner architektonischen Beschreibung der Bautätigkeit im River Delta im Hinterland von Hong Kong ähnliches, wenn er sie nicht als das „Hinarbeiten auf ein Ideal, sondern das opportunistische Ausbeuten von Zufallstreffern, Unglücksfällen und Unfertigem“ charakterisiert. Genau diese differente Reaktion auf die entstehende Kontingenz ist aber das Geheimnis, welches meiner Meinung nicht nur mit den tiefen Schichten des Unbewußten reduziert wer­den kann. Der zweite Schritt setzt aber über das spontane Gefallen hinaus eine Reflektion, quasi eine Beobachtung der eigenen Beobachtung, voraus. Es kommt der wichtige Aspekt des Neuen als das eigentliche Kriterium für Kunst dazu. Auch hier ist nicht ein sprachlich prozessierbarer „eigentlicher“ Sinn oder diverse Tabu­brüche wie vielleicht bei einem Großteil der künstlerischen Moderne gemeint. Das Neue kann im Detail der Darstellung, im Farbauftrag oder in der Kombination ver­schiedener gegenständlicher oder ungegenständlicher Bildelemente liegen. Das Neue ist vielleicht auch der Berührungspunkt mit der Art Brut, deren wichtigste

Eigenart das Nicht – Wissen ist, nicht nur im Bereich der Kunst, sondern auch im Hinblick auf die Reduziertheit der Begriffe. Diese mangelnde Fähigkeit Anschlüsse herzustellen korrespondiert oft mit einem verblüffenden, zumindest im Malprozeß anzustrebenden Reichtum der Gesten. Die Schwierigkeit beim Malen „Neuer“ Bilder besteht jedoch, wenn man wie ich kein Kind und nicht geisteskrank ist, in der Oszillation des Nicht-Wissens, im Vergessen, während des Malvorganges und der

Auswahl der Bildelemente anhand des Erinnerns, des Wissens um die Vorgänger­kunst. Auch wenn Sie das Neue in meinen Bildern nicht sehen können, werden sie Ihnen, so hoffe ich, „gefallen“. Über diese vielleicht auch nur scheinbare Zufälligkeit dieses Gefallens, kann man sich aber mit sich und anderen natürlich sinnvoll unter­halten, wobei sich der kommunikative Kreis, die Differenz von Künstler und Betrachter, zu schließen beginnt.

Jürgen Schönleber: Bilder 95 – 99, Regensburg 1999, S. 5

Rede des OB Schaidinger zur Verleihung des Kunstförderpreises der Stadt Regensburg 2004

Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Schönleber,

Selten entwickelte ein Künstler in kurzer Zeit so große Ausdruckskraft wie Sie dies taten, Herr Schönleber. Heute habe ich die Ehre, Sie dafür in den erlauchten Kreis der Regensburger Kulturförderpreisträger aufzunehmen. Sie sind der stets fragende Sinnsucher unter den Preisträgern von heute. Das Sinnsuchen ist eine der zentralen Größen in der Kultur.
Ihre Bilder kehren das Innerste nach außen. In Ihrer Kunst tun Sie etwas, was sich andere nicht trauen. Sie zeigen die dunklen und die hellen Flecke im Leben, die Abgründe, die andere kaum zu denken wagen. Umzingelt von einer aseptischen Konsumästhetik stellen Sie die Sinnfrage, die andere für altmodisch halten. Genau das halte ich heute für so notwendig und genau dafür erhalten Sie heute diesen Preis.

Ihr Selbstportrait aus dem Jahr 1994, Öl auf Leinwand, schwarz, grau, rot, die Augen zugekniffen, den Kopf eingezogen, die Brust gepanzert, voller Energie, eine Rakete kurz vor dem Start. Und dann erkennt man in diesem Portrait vor dunkelrotem Hintergrund eine Sphinx, ein rätselhaftes, undurchschaubares Wesen, halb geflügelter Löwe, halb Frau, das in der griechischen Mythologie jedem, der des Weges kam, Rätsel aufgab und ihn tötete, wenn er sie nicht lösen konnte. Sinnsuche.

Sehr geehrter Herr Schönleber, Sie haben im Laufe weniger Jahre einen unverwechselbaren künstlerischen Gestus entwickelt. Sie haben einen überaus eigenständigen künstlerischen Weg fernab aller Trends in der traditionsreichen Technik „Öl auf Leinwand“ eingeschlagen. In kurzer Zeit gelang es Ihnen, völlig unprätentiös auf sich aufmerksam zu machen. 1993 verlieh Ihnen das bayerische Kultusministerium den Debütantenpreis; 1996 erhielten Sie den erstmalig ausgeschriebenen Preis des hiesigen Kunst- und Gewerbevereins für die „interessanteste Arbeit“.

Ich erinnere mich noch gut an Ihre Ausstellung vor zwei Jahren in der Städtischen Galerie „Leerer Beutel“. Sie nannten sie „very important paintings“. Gezeigt haben Sie circa 20 ihrer jüngsten Arbeiten und spielten den Gegensatz zwischen den repräsentativen „very important paintings“ der Kunstgeschichte und dem eigenen subjektiven, gestischen Ansatz aus. Im Katalog zu dieser bemerkenswerten Ausstellung ist zu lesen: „Er beschäftigt sich nebenbei mit Philosophie und Kulturgeschichte: es ist ihm der kulturelle Ballast vertraut, weshalb ihm die Erkenntnis gekommen sein mag, dass tradierte kulturelle Werte oft nicht mehr ihrem eigentlichen Wesen entsprechen. Logik und Vernunft werden damit zu Begriffen, die dem ursprünglichen Empfinden eines Menschen diametral entgegengesetzt sind und kreative Prozesse fast zu unterbinden scheinen.“

Der Motor Ihrer Arbeit ist das eigene Erleben und so oszilliert Ihr Werk zwischen naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und subjektiver Wahrnehmung.
Es spiegelt so den Werdegang des Jürgen Schönleber, der 1965 in Nürnberg das Licht der Welt erblickte. Der studierte Maschinenbauingenieur kam 1989 zur Philosophie, ein Fach, das er in Regensburg und München studierte und gleichzeitig auch zur Kunst.

Ich freue mich, sehr geehrter Herr Schönleber, Ihnen heute einen Kulturförderpreis der Stadt Regensburg 2004 überreichen zu können. Ich gratuliere Ihnen im Namen der Stadt von ganzem Herzen zu dieser Auszeichnung!

 

Rede von Maria Kronfeldner zur Ausstellungseröffnung im ev. Krankenhaus 2003

 

Bestimmte Zufälle – eine Hommage

Maria E. Kronfeldner

 

 

Kunst und Philosophie begegnen sich nur noch selten und wenn, dann nicht hautnah. Eine hautnahe Begegnung ergibt sich wenn ein praktisches Problem der Kunst, wie man Kunst macht, mit einem theoretischen Problem der Philosophie kollidiert. Eine solche Kollision ereignete sich vor einiger Zeit zwischen Jürgen Schönleber und mir, bzw. zwischen seinen Bildern, seinen Aussagen dazu und meinen Überlegungen zu Kreativität, Freiheit und Zufällen: Was ist Kreativität und wie kann man sie erklären?

 

Freiheit?

Die Idee der Freiheit berührt: Sie berührt das Herz, das persönliche, das politische, das metaphysische. Wegen ihr begann ich als junger Mensch mit der Philosophie als Disziplin unserer Akademien. Doch die Irritationen blieben nicht aus. „Freiheit“ schien das falsche Wort zu sein. Das, was ich unter Freiheit verstand, war anscheinend nicht das, was Philosophen unter Freiheit verstanden.

Freiheit ist ein Wort, das den Philosophen viel bedeutet – eine hl. Kuh, die sich fast nur noch an die Idee der Kontrolle anlehnt. Es geht in den Freiheitsdebatten der Philosophie nur um die Frage, wer oder was das Handeln bzw. den Willen kontrolliert. Die deterministische Welt, Gott, der omnipotente Neurologe, die Matrix, das System, das Unbewußte – oder das Ich. Autonomie ist dabei nur ein anderes Wort für eine ganz bestimmte Art der Kontrolle. Sie soll sich von anderen Arten der Kontrolle unterscheiden und als Selbstbestimmung die Auszeichnung „frei“ verdienen. Freiheit wurde so zu: freier Kontrolle. Diese Idee der Freiheit ist vielleicht sogar die hl. Kuh schlechthin der abendländischen Philosophie und Wissenschaft.

Ich dachte bei dem Wort Freiheit an etwas anderes. Doch an was ich dachte, wusste ich nicht wirklich. Die Philosophie war keine große Hilfe. Ich hatte keine Worte, nur Intuitionen. Ein Ausstellungskatalog des Künstlers Jürgen Schönleber war der Anfang einer Wende. Schönleber schrieb über den künstlerischen Schaffensprozess und sprach in Anlehnung an Koolhaas von der Idee des „opportunistischen Ausbeutens von Zufallstreffern, Unglücksfällen und Unfertigem“. Es sei das „Geheimnis“, das nicht reduziert werden kann auf ein Bestehendes, auch „nicht auf die tiefen Schichten des Unbewussten“.

Der Gleichstrom des akademischen Freiheitsdiskurses in meinem Kopf war durchbrochen und die Intuition fand Worte: Diese Nichtreduzierbarkeit auf irgendeine Kontrolle im Entstehungsprozess meinte ich, wenn ich an Freiheit dachte – sei es die Kontrolle des inspirierenden Gottes, der Umwelt oder des Unterbewusstseins oder des bewussten cartesischen Egos. Endlich hatte ich auch ein anderes Wort dafür, das sich – wie ich hoffte – nicht so leicht von der Idee der Kontrolle vereinnahmen lassen würde: Kreativität.

Freiheit, die ich meinte, genauer Kreativität, ist im einfachen Wortsinne die Hervorbringung von Neuem. Das Interessante ist, dass das Ausbeuten des Zufalls die einzige Art ist, wie logisch gesehen genuin Neues erklärt werden kann.

 

Das genuin Neue – nur durch den Zufall

Seit Platons Menon (80d-86e) wird die Genese des genuin Neuen als ein Paradox formuliert: Wie kann man das genuin Neue entdecken oder erfinden, wie kann man nach einer Lösung für ein echtes Problem suchen, wenn man nicht weiß, nach was man sucht. Wenn man danach suchen kann, kennt man es bereits. Wenn man es noch nicht kennt, kann man nicht danach suchen.

Auf dieses Paradox kann man auf zwei Arten antworten:

  • Man sucht nicht wirklich. Man erinnert oder re-präsentiert.
  • Das genuin Neue erfordert einen Sprung, eine Spontaneität: Nur „blind“, d.h. ohne Voraussicht bzw. Voraussage und somit ohne Planung, Kontrolle und Methode, kann es erreicht werden.

Platon selbst wählte die erste Lösung, indem er von der Angeborenheit allen Wissens ausging. Aber auch Inspirationstheorien und empiristisch-assoziationistische Theorien der Kreativität antworten im Sinne der ersten Lösung. Popper wählte die zweite Lösung und schloss daraus, dass Kreativität nicht-rational sei, d.h. jenseits der Rationalität.

Und es stimmt: Das rationale, kontrollierende Ego, kann sich nicht selbst aus dem Alten in das Neue helfen. Man kann willentlich den Arm heben, aber man kann nicht willentlich das genuin Neue hervorbringen. Die Konzepte der Philosophen über die Kraft des bewussten Geistes versagen in Bezug auf das genuin Neue. Jene Fälle, in denen der Geist als Steuermann Neues hervorbringt, sind nur Fälle von Neuanwendungen und Ableitungen des bisher Gewussten. Doch auf sie bezieht sich Platons Paradox nicht. Platon bezog sich auf wirkliche Schöpfungen, in denen das Neue nicht schon im Alten enthalten ist. Es geht bei dem Paradox um die Einsicht, dass der Geist nicht fähig ist, sich aus eigener Kraft aus den eigenen Grundfesten heraus zu erneuern.

Das kontrollierende Ego fällt also als Erklärung für das genuin Neue aus. Dafür schleichen sich aber andere kontrollierende Kräfte durch die Hintertür wieder ein: Das Neue wird in der oben erwähnten 1. Lösung durch ein Urbild, ein Altes, und den direkten Abbildungsprozess von Urbild auf Abbild erklärt.

In Wiedererinnerungstheorien (seien sie platonistisch oder psycho-analytisch) gibt es das Neue schon in den herauf zu holenden Erinnerungen des Subjekts.

In den Inspirationstheorien gibt es das Neue schon in den Gedanken Gottes: Der Sprung wird überbrückt über die göttliche Inspiration – es ist der rettende Musenkuss aus der jenseitigen, allwissenden Welt Gottes, der uns freundlicherweise an seinem Reichtum teilhaben lässt. Das Subjekt sucht nicht wirklich, es wartet einfach – bis es mit Gottes Gnade inspiriert wird. Das Subjekt ist passiv. Dies hat die Künstler, die sich dieses Paradigma zu eigen machten, nie gestört, da sie zwar passiv waren, aber dafür Auserwählte – die Pinsel des Herrn.

Die Empiristen verfahren nicht viel anders – die Logik wird nur in die Horizontale gedreht: Das Denken des Subjekts ist Effekt der Umwelt. Im Empirismus gibt es das Neue bereits in der Umwelt, wenn auch nicht in gedanklicher Form.

In allen diesen drei Theoriengruppen gibt es das Alte schon anderswo, es wird nur repräsentiert und was noch viel wichtiger ist: das Alte bringt das Neue direkt hervor. Es wird importiert, kopiert. Alle drei Theorien lösen Platons Paradox im Sinne der ersten Antwort, indem sie das genuin Neue eliminieren: Jeder neue Gedanke ist in seiner Genese nur Abbild und Effekt eines Gegebenen, copy & paste.

Nur die zweite Antwort auf Platons Paradox, jene die vom Sprung spricht, nimmt die Existenz von genuin Neuem an und macht überhaupt den Versuch, es zu erklären. Es wird kein Urbild und kein Abbildungsprozess postuliert. Das Neue entsteht sozusagen „aus dem Nichts“. Zufall sagt man heute gewöhnlich dazu, wenn man nicht wieder auf die Kontrolle des Subjekts zurückfällt und somit erneut am Anfangspunkt von Platons Paradox steht.

„Aus Zufall“ heißt hier nichts anderes, als dass das Neue ungerichtet entsteht, nicht zielbestimmt, nicht von einem Abbild induziert und nicht im Bisherigen enthalten. Es handelt sich um einen relationalen Zufall: Etwas ist aus Zufall entstanden (1) in Relation zu unseren Wünschen, Zielen und (2) in Relation zum Inhalt des Produkts. D.h. die Ursache des Neuen steht in seiner Entstehung noch in keiner inhaltlichen Korrelation mit dem Neuen. Unser Wille, ein Ding x zu bekommen, steht in inhaltlichem Zusammenhang mit diesem x. Ein Urbild steht in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Abbild x. Beide inhaltlichen Zusammenhänge sind Bezüge. Bezüge gehören zur Kategorie der Intentionalität: Etwas bezieht sich auf etwas anderes. Zufall heißt hier also, dass in der Entstehung von etwas zwar ein kausaler Zusammenhang zwischen Ursprung und Produkt existiert, aber in der Entstehung noch kein intentionaler Zusammenhang (weder vorherschauend-mental-intentional noch abbild-urbild-relational).

Die Intentionalität, das „worum es geht“, ist ex post facto. Sie wird nachträglich zugeschrieben bzw. zugeordnet. D.h. der Ursprung ist an sich von keiner Relevanz für die Bedeutung, d.h. den Inhalt eines Werkes. Der Inhalt ergibt sich aus den zugeordneten Bezügen. Diese nachträgliche Zuordnung führt somit zu einer Art „Bestimmung“ und bewahrt die Freiheit durch den Zufall vor dem Abrutschen in die Beliebigkeit. Denn es geht bei der zweiten Lösung zu Platons Paradox nicht einfach um Zufälle. Es geht um bestimmte Zufälle.

Auch in der Biologie spricht man von der Heraufkunft von Neuem. Auch dort konnte man sich das Neue lange Zeit nur als Effekt und Abbild eines Urbildes oder als Ableitung des Bisherigen vorstellen. Das Neue erklärt sich entweder als direkter Effekt und Abbild der Gedanken Gottes – wie im Kreationismus – oder als direkter Effekt und Abbild der Umwelt, wie im Lamarckismus. Auch wenn bei Lamarck Individuen das Neue durch Anstrengung hervorbringen, sind sie zu ihrem Schicksal verdammt: Jedes Individuum reagiert bei Lamarck auf die gleiche Art und Weise auf die jeweilige Umwelt nach dem Prinzip der Korrelation. Das Ergebnis ist eine gerichtete Anpassung an die Umwelt. Lamarck nahm des Weiteren eine intern gerichtete Tendenz an, die Tendenz allen Lebens, sich zum Komplexen hin zu entwickeln; eine Tendenz, bei der das Neue im Bisherigen bereits angelegt ist. Im Deismus war der Plan Gottes die Erklärung des Neuen. Der Plan Gottes vollzieht sich plangemäß in der Geschichte. Der neue Organismus wäre damit eine direkte Reaktion auf das oder Ableitung dessen, was schon da war.

Für Darwin hingegen war die Natur anders. Willkürlich, zufällig brachte sie Neues hervor, geprägt von Überschuss, von Reichtum, von Verschwendung. Die Natur kann es sich leisten und ist klug genug, es sich zu leisten, verschiedenste Abweichungen im System zuzulassen, jenseits bzw. unabhängig von dem Zwang, eine Lösung für ein Problem hervorzubringen. Vorerst, um dann später in einem zweiten Schritt zu selektieren. So wird die aus dem Zufall geborene Neuerung im Nachhinein bestimmt, d.h. ausgerichtet – in der Natur wie in der Kultur. Das Geheimnis der Produktivität des Zufalls liegt genau in dieser Trennung der beiden Prozesse von Variation und Selektion. In der Natur ist das Ergebnis zwar eine Art „Abbild“ der Umwelt, da sich der Organismus der Umwelt anpasst, aber die neuen Eigenschaften des Organismus entstehen nicht aus Abbildung. Darwin schaffte es, die Genese einer Abbildung ohne Abbildungsprozess zu erklären. Das ist das Besondere an seiner Theorie. Die Variation entsteht ungerichtet. Erst die Selektion sorgt für die Ausrichtung.

Zurück zur Kreativität des Menschen: Der Zufall kann im Menschen eine Tiefe gebären, die von unten kommt, nicht von den Höhen des metaphysischen Himmels, nicht von den verhärteten Regionen der Psyche, nicht aus den sozialen oder deduktiven Seilschaften bisherigen Wissens und auch nicht aus den Weiten der Umwelt. Die Transzendenz ist unglaubwürdig und das im Hier und Jetzt Vorhandene ist langweilig geworden, der Zufall hingegen lebendig. Der Zufall allein gebiert Sub-versionen des Daseins und lässt dem Subjekt den Raum der nachträglichen aktiven Selektion. D.h., wenn das Subjekt überhaupt eine Rolle spielt (in den Varianten der 1. Lösung zu Platons Paradox ist das Subjekt immer passiv), dann muss es sich mit dem Zufall verbünden. Freiheit heißt Offenheit.

Freiheit als Offenheit ist eine negative Freiheit, eine Freiheit von Etwas: Freiheit von jeglicher Beschränktheit, von jeglicher Enge der Möglichkeiten. Freiheit wie sie in der Kreativität deutlich wird, heißt aber auch Freiheit zur Entscheidung. Diese positive Freiheit – eine Freiheit zu Etwas – besteht in dem Annehmen der neuen Ideen. Es ist nicht die Freiheit eines Initiators, sondern es ist eine Freiheit im Urteilen und Annehmen, ein Wollen dessen, was man hervorgebracht hat, ohne in der Genese willentliche Kontrolle auszuüben. Kreativität bedeutet Glück – nicht Erfolg. Erfolg hat man – nach einem alten Sprichwort – wenn man bekommt, was man will, Glück, wenn man will, was man bekommt.

John Cage soll angeblich geschrieben haben:

„When you are working, everybody is in your studio – the past, your friends, the art world, and above all, your own ideas – all are there. But as you continue painting, they start leaving, one by one, and you are left completely alone. Then, if you are lucky, even you leave.” (zit. bei Dennett, D.C. (2001). In Darwin’s Wake, Where Am I? (APA Presidential Address) Proceedings and Addresses of The American Philosophical Assoc. 75/2, 13-30, hier s. 9)

Freiheit heißt Offenheit. Durch sie wird der Zufall lebendig. Zumindest in Jürgen Schönlebers Bildern.

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